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Vergessene Arbeitskämpfe - Ein Punk-Abend
Streik der Streichholzpackerinnen in Kristiania (1889)
„Ein Streichholz bricht“, sinniert der deutsche Volksmund, „ – dreißig aber nicht.“ Das ist banal und überzeugend zugleich. Man kann diese Miniatur-Eloge für die Stärke in der Gemeinschaft auf so vieles übertragen. Zum Beispiel auf Arbeitskämpfe. Zum Beispiel auf einen Arbeitskampf in einer Streichholzfabrik.
Es ist ein Oktobertag im Jahr 1889. Im norwegischen Kristiania, heute Oslo, öffnen sich in den frühen Morgenstunden die Tore der Streichholzfabriken Bryn und Grønvold. Wie jeden Morgen öffnen sich beim Passieren eben jener Tore auch die Münder der hier angestellten Arbeiterinnen und Arbeiter. Zumindest kann man sich das heute so vorstellen, wenn man den in einer Londoner Streichholzfabrik spielenden Film Enola Holmes (Teil 2) gesehen hat: Am Beginn eines 12- bis 14-stündigen Arbeitstages inmitten giftiger Phosphorsekrete steht die obligatorische Zahnkontrolle. Wer faulige Zähne hat und erste Anzeichen einer Phosphornekrose zeigt, muss umkehren. Karies ist des Phosphors Freund. Über Hände, Nahrung und schadhafte Zähne gelangt der bis 1906 zur Streichholzproduktion genutzte, hochgiftige weiße Phosphor in den Kiefer, befällt die Knochen und führt schließlich zur Nekrose, dem Zerfall des Kieferknochens. Die Phosphornekrose gilt als eine der ersten offiziell anerkannten Berufskrankheiten. Für den Arbeitgeber bedeutet sie den unerwünschten Ausfall von Arbeitskraft. Für die Angestellten selbst bedeutet sie Schmerzen, lebenslange Entstellungen, Krankheit oder Tod.
Und doch war es zunächst gar nicht das unter miserablen sanitären Arbeitsbedingungen besonders gefährliche Hantieren mit weißem Phosphor, das den Streik der norwegischen Streichholzpackerinnen am 23. Oktober 1889 initiierte, sondern die Ankündigung einer Kürzung des ohnehin schon schmalen Lohns um bis zu 20 Prozent. Sie brachte fast 370 Frauen dazu, ihre Arbeit in den beiden Fabriken niederzulegen und für angemessenere Entlohnung, kürzere Arbeitstage sowie bessere sanitäre Arbeitsbedingungen zu kämpfen. Dass ausschließlich Frauen die Arbeit niederlegten, war auch Konsequenz des notorischen Gender-Pay-Gap, denn die Packerinnen wurden noch weit schlechter entlohnt als ihre männlichen Kollegen. Vielleicht haben sie sich dabei auch von norwegischen Zeitungsberichten über die in London streikenden Match-Girls inspirieren lassen. Diese waren ein Jahr zuvor, 1888, erfolgreich in der Fabrik Bryant & May für bessere Arbeitsbedingungen in den Streik getreten, hatten sich in einer Gewerkschaft organisiert und letzthin Lohnanhebungen und die Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen erreicht.
Was in Norwegen spontan und gänzlich unorganisiert begann, sollte zu einem Grundstein der norwegischen Arbeiterbewegung werden. Der Streik erregte große öffentliche Sympathien. Zügig bekamen die Arbeiterinnen Unterstützung und vor allem Streikanleitung aus verschiedenen Richtungen. Die norwegische Women’s Affairs Association brachte sich ein, bekannte Frauenaktivistinnen wie Ragna Nielsen und Margrethe Vullum sprangen den Arbeiterinnen zur Seite, der Herausgeber der sozialistischen Zeitung Social-Demokraten Carl Jeppesen bot seine Hilfe an. Ein Streikkomitee wurde gegründet und eine Streikkasse eröffnet, um die Lohnausfälle zu kompensieren. Demonstrationen und Benefizkonzerte wurden organisiert, Geld wurde gesammelt und auf einer großen, gut besuchten Arbeiterversammlung wurden die gesundheitlichen Gefahren der Arbeit – vornehmlich die Phosphornekrose – in den Blick und das Bewusstsein der erschütterten Öffentlichkeit gerückt. Carl Jeppesen plädierte zudem nachdrücklich dafür, dass sich die Frauen in einer Gewerkschaft organisieren: „Ohne einen Verband können sie ihre Position nicht verbessern, nur durch einen Verband bekommen sie die Kraft und Stärke, etwas zu erreichen.“ Oder eben kürzer: Ein Streichholz bricht, dreißig aber nicht.
Mit der Gründung ihrer eigenen Gewerkschaft am 28. Oktober 1889 schrieben die Match-Girls von Bryn und Grønvold norwegische Streikgeschichte, auch wenn die Errungenschaften des bis Dezember dauernden Streiks für die Arbeiterinnen am Ende mehr als bescheiden ausfielen. Der Arbeitgeber milderte lediglich das rigide Bußgeldsystem, das bis dahin z. B. morgendliches Zuspätkommen oder das Verfehlen des Arbeitspensums durch zu langsames Packen mit Lohnabzug bestrafte. Zudem wurden einige vage Versprechen bezüglich einer zukünftigen Lohnanhebung gegeben. Unabhängig davon zählt der Arbeitskampf der Streichholzpackerinnen heute dennoch zu den wichtigsten in der Geschichte der norwegischen Arbeiterbewegung. Als einer der ersten Arbeitskämpfe, der sowohl öffentlich-mediale Meinungsbildung als auch die Gewerkschaft als Organisationsform zu nutzen wusste (oder zu nutzen lernte), wurde er richtungweisend für die Gewerkschaftsbewegung des Landes.
Kerstin Roose
Über die Bands:
Jetzt wird zurückgefischt! Profilachse aus Berlin spielen seit 2020 politischen HardcorePunk. Meistens, musikalisch experimentiert wird auch in andere Richtungen. Textlich immer gegen Faschismus, Sexismus, Queerfeindlichkeit und andere Scheiße.
profilachse.bandcamp.com
SexBeat: Das energiegeladene Quartett liefert weiterhin hochgradig treibenden Upbeat-Post-Punk und No-Future-Sound. Man hört etwas Parquett Courts, etwas Uranium Club, etwasDischord-Sound und 70er-Jahre-Punk – schneidende Gitarren, dröhnende Bässe und 16tel-Noten-getriebene Drums – hektisch, rhythmisch, treibend, manchmal hypnotisch repetitiv.
Und über all dem knurrt der kratzige Gesang, der von all demGroßstadt-/Kleinstadt-/Jugend-/Throwback-Kram singt, der manchmal sehr vertraut und manchmal sehr ungewohnt klingt.
Auf jeden Fall werden Antworten auf einige der wesentlichen Fragen des Lebens gegeben – oder wisst ihr, was Hüsker Dü tun würden? Oder was es mit Dennis Rodman auf sich hat, warum der Fahrstuhl dich nicht nach unten ziehen sollte oder was die Höhen und Tiefen im Leben eines Fahrstuhlführers sind?
sex-beat.bandcamp.com/music
- 21:00Roter Salon
Vergessene Arbeitskämpfe - Ein Punk-Abend