
Der perfekte Tag
Von Pollesch/HinrichsWir werden uns heute Abend mit der Neurologie und der Liebe auseinandersetzen. Wir haben ungefähr 60.000 Gedanken jeden Tag, sagen Neurolog:innen, und das meiste davon ist Schrott. Aber wir denken, das wäre die Realität, das wäre die Wahrheit, und wir müssten so leben. Und nehmen wir jetzt mal an, das hier wäre Let‘s Dance“, dann könnten alle, die mitmachen, zwischen den Tänzen ihren Gedankenschrott ausbreiten, den sie für ihr Leben halten, in Dialogen untereinander, 60.000 Gedanken pro Person. Und der Moderator würde hinzufügen: „Früher hat man mehr gedancet, heute sitzt man zusammen und kocht was, und es ist ein bisschen langweilig. Und der Cha-Cha-Cha ist ja in Vergessenheit geraten.“
Und dann ist Lichtwechsel oder so, und es wird getanzt! Und zwar richtig gut!
Und man könnte auch schon einen Vorgeschmack geben auf das, was in der Spielzeit kommen wird. Zwei, drei Paare tanzen, die dann in der Volksbühne auftreten werden. Und vielleicht erfinden wir einen GANZ NEUEN Tanz, zusammen mit dem Publikum (die müssen ja nicht mitmachen)? Ein Tanz, der nur in unseren Köpfen stattfindet, den wir gar nicht leben können, und der auch nicht bewertet werden kann, weil er nur in unseren Köpfen existiert. Und dann kommen die Tänzer:innen, die ganz andere Tänze tanzen, also das, was sie eben erfunden haben, und es ganz bewusst nicht filmen für TikTok. Man sagt sie einfach an, man moderiert sie einfach an: Das wird ein perfekter Tag!
Ab jetzt wird das ein perfekter Tag!
Das Rad muss neu erfunden werden. Das Rad, und nicht dieser Käfer da. (zeigt auf das VB-Rad)
Sie werden heute einen perfekten Abend erleben! Dieser Ort hier wird sich vor Ihren Augen verwandeln! Das ist ein Versprechen.
Wir werden vor Ihren Augen ein Pferd verschwinden lassen! Wir werden dieses Haus hier verschwinden lassen. Ich weiß, es ist schwer zu glauben, aber das wird gleich passieren.
Wir sind es, wir mit unserer Verführungsmacht, denen man den Nachlass von Pina Bausch hinterlassen hat. Sie werden heute Abend Café Müller sehen.
Wir sind testamentarisch dazu berechtigt, ihr Werk hier aufzuführen, und so am Leben zu erhalten. Wir tanzen Café Müller und retten es damit vor dem Vergessen. Das wird ein 6-Stunden-Abend werden.
Ja, und Sie werden erst wieder bei Anbruch des nächsten Tages entlassen werden. Und dann haben Sie erst den ersten Akt gesehen.
Wir müssen das Rad neu erfinden, neu erforschen. Vielleicht gibt es etwas, was wir am Rad nicht verstanden haben.
Wir müssen das alles leider leider leider neu erfinden! Wir müssen so tun, als gäbe es das alles noch gar nicht. Die Werkzeuge, wie Arme und Beine, und wie man sie berührt, wie man ihnen begegnet. Wir erforschen das Rad noch einmal. Vielleicht gibt es etwas, was wir am Rad nicht verstanden haben.
Was soll denn das Rad sein?
Was ist das für eine Erfindung: Der perfekte Tag? Das hört sich alles nach Fortschritt an. Was ist denn mit der Erfindung von „Mann und Frau“? Was ist mit der Erfindung der Biologie? Mit der geschlechtlichen Fortpflanzung? Warum ist die Liebe nicht aufgeführt unter den 100 wichtigsten Erfindungen der Menschheit? Ist die nicht wichtig gewesen? War die kein Fortschritt? Was ist mit der Erfindung des Dildos?
Hier wurde die Dusche erfunden, und hier die Kontaktlinse, und hier der Schwamm, da die Seife, und da das Feuer, das Rad wurde nicht erfunden, es wurde erforscht, und die Sinne, die Sinne wurden erfunden und die Abwesenheit der Sinne, und das Sehen, das kannten die Augen noch nicht, sie machten was anderes und die Arme erfanden das Arme-Sein und die Beine das Gehen, aber auch die Haare begannen zu gehen, und der Rauch auch, und die Tiere mit ihren Geweihen machten was anderes, eine jede Spitze sah und ein jedes Geweih-Ende signalisierte dem andern, dass es zuhörte. Und die Ebene war eben, aber die Hose dachte nicht dran. Und die Ohren, bevor sie hörten, waren nur ganz widerliche Henkel am Kopf, und dann gab man ihnen den Befehl alles reinzulassen in den Trichter, aber die Ohren waren noch keine Trichter, sie waren Geweihe und das Sehen saß auf den Fingerkuppen wie eine einsatzbereite Truppe, die dann aber an das Blaue und Weiße und das Braune übergeben wurde, diese Trichter, mit denen wir sehen. So war es. Und es wurde wieder und wieder erforscht, und wenn man mit dem Sehen an sein Ende kam, war das noch nicht der Tod.
Jetzt haben Sie wieder nur Dildo gehört, und nicht, dass „Mann“ und „Frau“ von mir hier als Erfindung markiert wurden. Das heißt, wir müssen uns fragen, wenn wir uns nicht hören, was passiert denn da?
Was die Zuschauerinnen im Theater sehen, selbst wenn die Schauspielerinnen direkt vor ihnen stehen, ja selbst ein anderer Mund, bis er unseren berührt, liegt in der Vergangenheit. Zwar ist das, was wir vor uns sehen, nur ein paar Nanosekunden älter als wir selbst – der eigene Mund, die eigene Präsenz – aber immerhin. Für einen Moment sollten wir das nicht vernachlässigen, dass alles vor uns in der Vergangenheit liegt, auch wenn es nur ein paar Nanosekunden sind. Das Licht ist sehr schnell, aber eben nicht unendlich schnell, sondern 300.000 Kilometer in der Sekunde. Wäre es langsamer, wäre alles noch komplizierter, habe ich mal gelesen, dann wären die Eltern jünger als ihre Kinder. So aber liegt alles um uns herum in der Vergangenheit. Nichts ist gleichzeitig. Weil Energie nicht unendlich ist und das Licht nicht unendlich schnell. Wir sind also nie Zeitgenossen.
Meine eigene private Idee, warum für die Menschen die Zeit im Alter schneller vergeht, ist: weil die meisten nur noch besoffen sind.
Für alle Binaritätsidioten da draußen, zwei Zitate von Biologinnen: Jedes Lebewesen ist seine eigene Gattung (Darwin), und möglicherweise in einem gemeinsam zu bewohnenden Haus der Differenz (Haraway).
Der perfekte Tag ist Teil des Kultursommerfestivals.
