Moritz Frei • New World Order

20.04. bis 23.07.2023

Erinnern Sie sich, was sie als Letztes gekauft haben?
Was auch immer es gewesen ist: Vermutlich, – also das ist eine reine Unterstellung, aber mit ziemlich hoher Wahrscheinlichkeit stimmt es – haben Sie diesen Einkauf am Computer oder am Smartphone erledigt. Mit dem digitalen Warenkorb sind sie zur Kasse gegangen, haben kostenpflichtig bestellen gedrückt, den Tab geschlossen und damit begonnen auf ihr Paket zu warten. 3–5 Tage. Bei Expressversand gegen Aufpreis erreicht es einen manchmal schon am nächsten Morgen. Nachdem die Bestellung abgeschlossen wurde, geht die mittlerweile recht unübersichtlich gewordene Reise vom Produkt zum Konsumenten los.
Das Paket wird aus einem Warenlager in einen Transporter geladen, wird weitergeleitet, umgeleitet, zwischengelagert. Vermutlich hat jedes dieser braunen Pakete am Ende seiner Reise eine größere Distanz zurückgelegt als derjenige, der es gekauft hat an einem Wochenende. Doch das geht nur, weil jemand anderes diese Strecke bewältigt. Dieser jemand ist der Paketbote. Derjenige, der in seinem Lieferwagen die kleinen Straßen von Innenstädten, die nicht für diese Art von personalisiertem Lieferverkehr gemacht sind, verstopft. 2021 wurden 4,51 Milliarden Pakete in Deutschland versandt. Man kann das auf die Pandemie schieben, aber auch 2022 waren es nicht viel weniger. Und: jedes vierte Paket wird wieder zurückgeschickt. All der Aufwand letztendlich für nichts. Der Paketbote wird zum Sisyphus. Mit den Paketen und mit der Liefermentalität sind die Dienstboten zurückgekehrt. Man läutet nun nicht mehr die Glocke, wenn man auf dem Sofa liegend plötzlich unbedingt Vanilleeis haben möchte, sondern drückt ein paar Tasten und gibt seine Bestellung auf. In nur fünf Minuten kann das Vanilleeis bei einem sein. So das Versprechen der Lieferanbieter. Man bestellt nicht mehr nur ein Teil, nein man bestellt verschiedene Größen, probiert an und schickt das, was nicht passt, oder nicht gefällt wieder zurück. Bei Kleidung wird sogar jedes zweite Paket zurückgeschickt.

Moritz Frei (*1978, lebt in Berlin) untersucht dieses Phänomen und mögliche Folgen in seiner Ausstellung New World Order, die jetzt im PAVILLON an der Volksbühne zu sehen ist. Braune Pakete, die er auf Streifzügen durch die Nachbarschaft gesammelt hat, türmen sich in dem von allen Seiten einsehbaren Glasbau. Man sieht den Raum vor lauter Paketen kaum. Sie sind Ausdruck einer aus den Fugen geratenen Balance zwischen Konsum, Produktion und Maß. Alles – als ständige Antwort auf die Frage, was man wirklich braucht. Und man kann sich gut vorstellen, dass sich mancher Paketbote überwältigt fühlt, wenn er den Frachtraum seines Lieferwagens öffnet. Und vor allem, wenn er seine Ladung nicht loswird, weil der Empfänger nicht zuhause ist. Dann geht die ganze Reise wieder von vorn los. Das Einladen, Ausladen, Treppe rauf, Treppe runter.

Frei hat mit dem Schauspieler Ingolf Müller-Beck einen Film gedreht, in dem Müller-Beck, die Uniform eines Paketboten trägt. In dem Film sind verschiedene Szenen im Loop zu sehen. In dem Film sind verschiedene Szenen im Loop zu sehen. Manchmal kickt Müller-Beck das Paket wie einen Fußball, wirft es in die Luft. Für einen kurzen Moment sieht das Paket aus wie ein funkelnder Himmelskörper, der den neugierigen Armen des Boten entgegenfällt. Mal sitzt der Paketbote, den Mund schief verzogen, mit dem Paket auf der Schaukel. Er wirkt verloren. Der Paketbote verkörpert die Ratlosigkeit gegenüber dieser neuen Weltordnung, in der er keine gute Rolle zugewiesen bekommen hat. Dann kippt die Ratlosigkeit in Wut. Er drischt mit den Fäusten darauf ein, kämpft mit dem braunen, unförmigen Papp-Ungetüm. Wer den Kampf gewinnt, bleibt offen. Doch was wäre, wenn die modernen Dienstboten sich nicht mehr einspannen lassen? Wie könnte eine Welt aussehen, in der eine andere Ordnung gilt? New World Order. Eine Ordnung, in der einem die Auswirkungen des eigenen Handelns bewusst werden. In der man versteht, welche enormen Hebel man mit dem Klick auf zahlungspflichtig bestellen in Bewegung setzt.
Eine der grundlegenden Fragen, die sich über diese Entwicklung stellt, ist, wie sehen unsere Städte aus, wenn das, was man früher dort getan hat, jetzt im Digitalen stattfindet? Wenn sich Shopping und Arbeit aus den Städten in die privaten Räume verlagern?
Auch dafür hat Frei einen Vorschlag: An Donnerstagen wird es Kaffeekränzchen im Pavillon geben. Mit Blechkuchen und Filterkaffee. Für die Nachbarschaft, für Neugierige, aber auch für die Paketboten, die dort Tag für Tag durch die Straßen rasen. Für die aber wohl eher To Go in Anbetracht der Mengen, die sie ausliefern müssen und der wenigen Zeit, die ihnen dafür zugestanden wird.

Zur Ausstellung wird es eine Edition mit dem Titel Letzte Meile, 2023, geben.
Lentikularbild in Eichenrahmen, Museumsglas
30 × 16,87 cm
Auflage 30 + 3 APs
499,95 € exkl. MwSt.
Erhältlich im Pavillon, über raffaela@voyage-voyage.berlin
oder eine Nachricht bei Instagram.

Moritz Frei, geboren 1978 in Frankfurt am Main, trank seine erste Tasse Kaffee mit Bruno Ganz (Meine erste Tasse Kaffee, 2017), drehte mit der Schauspielerin Anne Hoffmann während des Lockdowns die 25teilige YouTube-Serie die Corona Chronik (2020) und den Zweikanal-Film Wie groß ist das Feuer? (2023). Das Dach der Hamburger Kunsthalle ziert permanent seine 9m breite Neon-Installation I don’t believe in dinosaurus. (2021) und in seinem Verlag berlinartbooks verlegt er gerne Künstlerbücher.
Seine Arbeiten wurden unter anderem in der Hamburger Kunsthalle, dem Museum Wiesbaden, der Bundeskunsthalle Bonn, dem Museum Giersch in Frankfurt am Main, dem Haus der Kulturen der Welt in Berlin, dem Kunstmuseum Wolfsburg, dem Leipziger Kunstverein und dem Europäischen Zentrum der Künste Hellerau gezeigt.
2018 erhielt er den Deutschen Fotobuchpreis (silber) für sein Buch Kunstwerke des Tages und 2022 ein Stipendium der Stiftung Kunstfonds.

Januar
01
Do
  • 01:00
    Pavillon

    Moritz Frei

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