
Gefühle am Ende der Welt
Ob es möglich ist, ohne Ressentiment zu leben, ist nicht klar. Das Bedürfnis, Andere für das eigene Leiden zur Verantwortung zu ziehen, ist manchmal berechtigt, oft unberechtigt, meistens aber vor allem aussichtslos. Ressentiments überkommen uns genau dann, wenn es am schlimmsten ist, und wir ihnen wenig entgegenzusetzen haben. Jedoch sind die Gefühle, die sich einstellen, wenn der Regen einem ins Gesicht schlägt und alles sich gegen die eigene Existenz verschworen zu haben scheint, nicht harmlos, sondern wirken sich auch politisch aus – nicht zuletzt, weil sie dazu neigen, sich zu kollektiveren und Sündenböcke zu produzieren. Die philosophische Begriffsgeschichte des Ressentiments stellt durchweg hohe Ansprüche an Individuen: den Schmerz zu dissoziieren (Stoa), die Kleingeistigkeit abzulehnen (Nietzsche), die Wunde zu verkörpern (Deleuze), und insgesamt aufzuhören zu jammern. Aber was außer Ansprüchen haben wir konkret dem Ressentiment entgegenzusetzen? Und wie sähe eine Gesellschaft aus, welche die Wut auf die Verhältnisse großzügig und weich aufnehmen und in eine Sorge umeinander umwandeln kann? Und wann bringt die glühende Empörung darüber, ungerecht behandelt worden zu sein, das Wissen zum Ausdruck, dass sich die Welt verändern muss?
Jorinde Schulz studierte Musik, Philosophie und Politikwissenschaften. Sie ist Co-Autorin des Buchs Die Clubmaschine (Berghain) und Mitherausgeberin des neu erschienenen Sammelbands GENERALVERDACHT. Wie mit dem Mythos Clankriminalität Politik gemacht wird, der sich mit (allzudeutschen) Projektionen und rassistischer Law-and-Order-Politik im Zuge der „Clan“-Debatte auseinandersetzt. Aktivistisch wie publizistisch beschäftigt sich Jorinde Schulz mit autoritären Tendenzen und Privatisierungszyklen des Neoliberalismus. Sie arbeitet bei der Antiprivatisierungsorganisation Gemeingut in BürgerInnenhand, gehört zum Vorstand der LINKEN Berlin und zur Crew des Raumschiffs Beben.
Ulrich Engel OP, Dr. theol. habil., wurde 1961 in Düsseldorf geboren und ist heute als Professor für Philosophisch-theologische Grenzfragen am Campus für Theologie und Spiritualität Berlin tätig. Zugleich ist er dessen Gründungsbeauftragter. Darüber hinaus co-leitet er das Institut M.-Dominique Chenu Berlin, ein Forschungszentrum, das sich mit dem Zusammenhang von Religion und Säkularität, sowie mit neuen Vergemeinschaftungsformen und ihren sozialethischen Bedingungen befasst. 1984 trat er in den Dominikanerorden (Ordo Praedicatorum) ein; heute lebt er in einer Kloster-WG seiner Gemeinschaft im Prenzlauer Berg. Ulrich Engel wurde im Bereich der theologischen Ästhetik mit einer Arbeit zu Peter Weiss und dessen bildkünstlerischem, literarischen und filmischen Werk promoviert. Im Rahmen seines Habilitationsprojekts befragte er verschiedene Positionen postmoderner Philosophie auf ihre theologische Anschlussfähigkeit. 2017 erschienen seine von der European Society for Catholic Theology als Buch des Jahres ausgezeichneten Geistergespräche mit Derrida & Co. Engel ist Mitglied der Schriftleitung der Zeitschrift Wort und Antwort, die jüngst eine Nummer zum Thema Schubladen im Kopf: Ressentiments publizierte.
- 20:00Roter Salon
Gefühle am Ende der Welt
Mit: Jorinde Schulz und Ulrich Engel OP