Gefühle am Ende der Welt
Jede:r Bürger:in eines Staates, der seine Angelegenheiten durch Verwaltungsstrukturen regelt, macht zuweilen die Erfahrung, dass Bürokratie Aufforderungen und Zwänge mit sich bringt, deren Urheber nicht mehr festzustellen ist. Nichts evoziert so verlässlich Frustration wie diese „Herrschaft des Niemand“. Hannah Arendt prägte diese Bezeichnung, um auf die Gefahr eines Outsourcings von Macht und ein falsches Vertrauen in ein vorhandenes Regelwerk hinzuweisen. Tatsächlich bedeutet Bürokratie für eine Demokratie gleichzeitig eine Bedrohung und ein Versprechen: Das Versprechen der „Utopie der Regeln“ (Graeber) ist darauf aus, menschliches Versagen als Fehlerquelle im sozialen Zusammenleben möglichst zu eliminieren und Gleichheit zu garantieren. Aber jeder weiß, dass die Verselbständigung von Bürokratie nicht nur Rettung der regelbasierten Ordnung ist, sondern häufig auch eine Sabotage der Urteils- und Entscheidungskraft des Einzelnen, die einen bisweilen bis den Wahnsinn treiben kann. Auch das Versprechen auf Gleichheit wird durch die ungleich erlebten organisatorischen Herausforderungen im Dschungel der Bürokratie konterkariert. Gerade im Scheitern an ihr wird Ungleichheit sichtbarer als sonst. Welche Bürokratie ist also angemessen angesichts der menschlichen Schwäche?
Zu Gast sind Susanne Baer & Joseph Vogl
Susanne Baer ist Professorin an der Humboldt Universität zu Berlin, an der Juristischen Fakultät und dem Zentrum für transdisziplinäre Geschlechterstudien und war von 2011 bis 2023 Richterin des Bundesverfassungsgerichts, im Ersten Senat. Sie ist Centennial Professor an der LSE London und Global Faculty an der Michigan Law School, Mitglied der British Academy und der Academia Europeae, und arbeitet zu Grundrechten, vergleichendem Konstitutionalismus, Antidiskriminierungsrecht und „Recht real“, also Recht als Praxis aus interdisziplinärer Perspektive. Sie engagiert sich für das Forum Recht, derzeit als Vorsitzende des Beirats, und für den demokratischen Rechtsstaat in Vorträgen und Publikationen. Mehr online: www.rewi.hu-berlin.de/de/lf/ls/bae
Joseph Vogl war bis 2023 Professor für Neuere deutsche Literatur, Literatur- und Kulturwissenschaft/Medien an der Humboldt-Universität zu Berlin und ist Regular Visiting Professor an der Princeton University, USA. Zuletzt erschienen Das Gespenst des Kapitals (2010), Der Souveränitätseffekt (2015), Kapital und Ressentiment. Eine kurze Theorie der Gegenwart (2021) und Meteor. Versuch über das Schwebende (2025).
- 20:00Roter Salon
Gefühle am Ende der Welt
MIt: Susanne Baer & Joseph Vogl